Die Polizei darf in bestimmten Situationen körperliche Gewalt anwenden, um polizeiliche Maßnahmen durchzusetzen (sog. unmittelbarer Zwang). Wann das zulässig ist, wird durch verschiedene gesetzliche Regelungen bestimmt. Nur bei Vorliegen der dort genannten Voraussetzungen darf die Polizei Gewalt anwenden. Die Grenzen dieser Befugnisse sind dann überschritten, wenn die Voraussetzungen für den Gewalteinsatz nicht (mehr) vorliegen oder wenn der Einsatz von Gewalt unverhältnismäßig ist. Unverhältnismäßig bedeutet, dass das für die Zweckerreichung der Maßnahme erforderliche Maß der Zwangsausübung überschritten wird. In diesen Fällen ist die polizeiliche Gewaltanwendung rechtswidrig und stellt dann in der Regel auch eine strafbare Körperverletzung im Amt gemäß § 340 Strafgesetzbuch dar.

Viktimisierung bedeutet „zum Opfer werden“ (lat. victima = Opfer). Der Viktimisierungsprozess beschreibt also einen Geschehensablauf, bei dem eine Person durch eine rechtswidrige Handlung einer oder mehrerer anderer Personen geschädigt wird. Dabei sind verschiedene Einflussfaktoren von Bedeutung: Einerseits können bestimmte Situationen ein gewisses Risiko- oder Konfliktpotential beinhalten, andererseits können persönliche Merkmale des Opfers und des Täters den Viktimisierungsprozess bedingen. Ziel des Forschungsprojekts ist es deshalb, diese Faktoren zu identifizieren und zu analysieren. Welche Personengruppen sind von rechtswidriger Gewaltanwendung durch die Polizei betroffen? Welche Situationen sind besonders typisch? Warum eskalieren diese Situationen? Was sind Folgen für Betroffene und wie gehen sie damit um?

Für die Erforschung des Phänomens rechtswidriger Gewaltausübung durch Polizist*innen kommen im Wesentlichen drei Möglichkeiten in Betracht: Befragungen, Beobachtungen oder Aktenanalysen. Aktenanalysen haben u.a. den Nachteil, dass sie nur solche Fälle untersuchen können, die auch zur Anzeige gebracht wurden, sie betreffen also nur das Hell- und nicht das Dunkelfeld. Beobachtungen von Polizeieinsätzen haben den Nachteil, dass die Anwesenheit von Forschenden das Handeln der Polizeibeamt*innen beeinflussen kann. Außerdem müsste, da es sich um ein recht spezielles Problem handelt, eine große Masse polizeilicher Einsätze beobachtet werden, um zu einer hinreichend großen Zahl an Fällen zu gelangen.

Angesichts dessen sind Viktimisierungsbefragungen – d.h. die Befragung von Personen, die angeben, Opfer einer Straftat geworden zu sein – ein gängiges Vorgehen in der Dunkelfeldforschung. Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen etwa führte im Jahr 2010 eine Online-Befragung von Polizeibeamt*innen in zehn Bundesländern zu ihren Gewaltopfererfahrungen durch (Ellrich/Baier/Pfeiffer 2012). Auch im Hinblick auf das Forschungsinteresse der KviAPol-Studie war eine Viktimisierungsbefragung die zielführendste Methode. Auf diese Weise kann herausgefunden werden, wer sich – unabhängig von einer Anzeige – von Gewalt betroffen sieht, was aus Betroffenenperspektive zur Eskalation führte, welche Folgen die Gewalt hatte und wie damit umgegangen wurde. Solche Befragungsdaten sind subjektiv und bilden die Wahrnehmung der befragten Person ab. Der objektive Wahrheitsgehalt der Angaben kann in solchen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen nicht überprüft werden. Die Daten können jedoch auf Plausibilität überprüft werden, was in der Studie KviAPol im Rahmen der Datenbereinigung erfolgt ist.

Ohne die Perspektive von betroffenen Personen ist die Erforschung des Deliktsbereichs Körperverletzung im Amt stets unvollständig und können zahlreiche Fragestellungen nicht oder nur unvollständig untersucht werden. Die polizeiliche Sichtweise wird im Projekt durch 22 Interviews mit Beamt*innen aus verschiedenen Bundesländern abgebildet.

Sowohl im Aufruf zur Teilnahme als auch in der Befragung selbst wurde darauf hingewiesen, dass nur rechtswidrige Gewaltanwendungen Forschungsgegenstand der Studie sind, d.h. solche, die ohne gesetzliche Grundlage erfolgen oder unverhältnismäßig sind. Die Ergebnisse der Befragung basieren auf der Wahrnehmung der Befragten. Zu Beginn des Fragebogens wurde erklärt, wann die Polizei Gewalt anwenden darf und wann nicht. Mehr als ein Drittel (36 %) der Befragten, die mehr als einmal Gewalt durch die Polizei erlebt hatten, gab an, dass darunter auch Erfahrungen mit gerechtfertigter polizeilicher Gewalt waren. Betroffene sind also durchaus in der Lage, differenzierte Bewertungen zu treffen. Darüber hinaus sollte es auch für die Polizei selbst von Interesse sein, wann und warum polizeiliches Handeln als rechtswidrig wahrgenommen wird. In einer Demokratie muss staatliches Handeln für Bürger*innen nachvollziehbar und überprüfbar sein. Die Annahme, nur ausgebildete Jurist*innen könnten die Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen beurteilen, offenbart ein Missverständnis: Ob Gewalt notwendig ist und in welchem Maße, ist häufig keine juristische, sondern eine Tatsachenfrage. Dass diese Tatsachen häufig zwischen den Beteiligten streitig sind, bedeutet jedoch nicht, dass Bürger*innen grundsätzlich nicht in der Lage wären, unverhältnismäßige Gewalt zu erkennen. Die Frage, warum die Betroffenen die Gewalt als rechtswidrig bewerten, ist Teil der Forschung.

Die Verfolgung einer strafbaren Handlung hängt in erster Linie davon ab, dass sie den Strafverfolgungsbehörden überhaupt bekannt wird. Am Beginn der Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft steht in der Regel eine Strafanzeige. Betroffene haben unterschiedliche Gründe, sich für oder gegen eine Anzeige zu entscheiden. Die Erstattung oder Nichterstattung einer Anzeige sowie die Faktoren, die diese Entscheidung beeinflussen, werden unter den Begriff des Anzeigeverhaltens gefasst

Nicht alle Straftaten, die begangen werden, werden Polizei und Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörden auch bekannt. Sie bleiben „im Dunkeln“. In der Dunkelfeldforschung wird versucht, Hinweise darauf zu finden, wie viele Taten tatsächlich begangen werden, auch wenn diese weder angezeigt noch auf sonstige Art und Weise von der Justiz erfasst werden. Aber nicht nur die Häufigkeit, auch die Struktur und Besonderheiten des Dunkelfeldes in dem jeweiligen Deliktsbereich werden betrachtet. Ziel des Forschungsprojekts ist es, das Dunkelfeld von rechtswidriger polizeilicher Gewaltausübung zu beleuchten. Das bedeutet, dass wir nicht nur Fälle betrachten, bei denen es zu einer Anzeige, Gerichtsverhandlung oder Verurteilung gekommen ist, sondern gerade auch solche Fälle auswerten wollen, die gar nicht angezeigt wurden. Dafür eignet sich eine Viktimisierungsbefragung,

Aus dem Anzeigeverhalten der Befragten können Rückschlüsse auf das Dunkelfeld gezogen werden. Sehr viele der in dem Projekt Befragten, die eine nach ihrer Einschätzung rechtswidrige körperliche Gewaltanwendung durch die Polizei erfahren haben, entschieden sich gegen die Erstattung einer Anzeige. Diese Fälle wurden nicht offiziell bekannt und verbleiben "im Dunkeln", gelangten also nicht ins sog. Hellfeld. Daraus lässt sich das Größenverhältnis von Hell- und Dunkelfeld abschätzen. Eine Hochrechnung auf konkrete Fallzahlen, d.h. wie viele Fälle rechtswidriger Polizeigewalt pro Jahr stattfinden, kann man anhand dessen aus wissenschaftlicher Sicht jedoch nicht vornehmen und wird daher von der Studie auch nicht unternommen

Repräsentativ sind Datenerhebungen dann, wenn sich aus der Analyse einer kleineren Menge von Daten – der jeweiligen Stichprobe – Rückschlüsse auf eine größere Menge – die Grundgesamtheit, in der Regel die Gesellschaft insgesamt – ziehen lassen. Eine Stichprobe, also die Auswahl an Personen, die befragt werden, gilt daher dann als repräsentativ, wenn die Befragten zufällig ausgewählt werden und alle Personen aus der Grundgesamtheit die gleiche Chance haben, in die Stichprobe zu gelangen. Genau dies ist aber praktisch kaum umsetzbar, wenn man Phänomene untersucht, die vergleichsweise selten und/oder in der Gesellschaft mutmaßlich sehr ungleich verteilt sind (vgl. Diekmann 2020, S. 399 f; Trübner/Schmies 2019). Fehlende Repräsentativität bedeutet nicht, dass die Studie nicht wissenschaftlich wäre.

Eine bevölkerungsrepräsentative Befragung zu rechtswidriger Gewalt durch Polizeibeamt*innen hätte aufgrund der mutmaßlichen niedrigen Prävalenzrate – Ellrich und Baier (2015) kamen für Niedersachsen auf 0,5 % der Bevölkerung, die innerhalb eines Jahrespolizeiliche Gewalt erlebt hatten – eine ineffiziente Stichprobenziehung bedeutet (vgl. Trübner/Schmies 2019): Für die Untersuchung hätte eine sechsstellige Anzahl an Personen befragt werden müssen, um eine hinreichend große Stichprobe von Betroffenen aus der Bevölkerung in Deutschland zu gewinnen. Betroffene von rechtswidriger Polizeigewalt stellen zudem einen besonderen, eher kleineren Teil der Bevölkerung dar, eine spezielle Population, die durch Bevölkerungsumfragen schlecht zu erreichen ist (Diekmann 2020, S. 399). Die Ergebnisse sind daher nicht bevölkerungsrepräsentativ. Ob die Ergebnisse repräsentativ für Betroffene rechtswidriger Polizeigewalt sind, kann nicht gesagt werden, da gar nicht bekannt ist, wie sich die Grundgesamtheit zusammensetzt. Da keine vollständige Liste über Betroffene existiert, kann keine Zufallsstichprobe aus der Population „Betroffene rechtswidriger Polizeigewalt“ gezogen werden. Fragestellungen wie die von KviAPol lassen sich also praktisch nur mittels einer nicht repräsentativen Stichprobe untersuchen. Dies bedeutet nicht, dass sich aus den Ergebnissen keine Schlussfolgerungen ableiten ließen. Zwar dürfen die Ergebnisse nicht einfach für die deutsche Gesamtbevölkerung verallgemeinert werden, es ist aber auch nicht das Ziel der Studie, genaue Prävalenzraten zu ermitteln. Ziel ist es, durch den explorativen Fokus Erkenntnisse über Situationen zu gewinnen, in denen polizeiliches Handeln als nicht mehr verhältnismäßig empfunden wird, sowie über das Anzeigeverhalten und die juristische Aufarbeitung solcher Vorfälle. Die Stichprobe des Projekts KviAPol bildet eine Vielzahl an sehr unterschiedlichen Situationen ab, sodass die Ergebnisse wesentliche Anhaltspunkte für eine Einschätzung der Gesamtsituation liefern. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass auch 63 Interviews mit Polizei, Justiz und zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt wurden, die neben den Erkenntnissen aus der Betroffenenbefragung gleichwertiger Teil des Projekts sind. Die Kombination dieser Perspektiven lässt ebenso differenzierte wie belastbare Schlussfolgerungen für den Forschungsgegenstand zu.

Da keine Zufallsstichprobe gezogen werden konnte, wurden die Befragten im sog. Schneeballverfahren rekrutiert, welches vor allem für schwer erreichbare Zielpopulationen geeignet ist (vgl. Diekmann 2020; Berg/Lune 2014, S. 52; Penrod et al. 2003). Dazu wurden zivilgesellschaftliche Organisationen kontaktiert, die als sog. Gatekeeper*innen den Kontakt zu Betroffenen herstellen konnten, und um Unterstützung bei der Verbreitung der Befragung gebeten. Daneben wurde mit Flyern und einem Aufruf auf Social Media gearbeitet. Schon die vorbereitende Recherche zeigte, dass einige Situationen als besonders gewaltbelastet bezeichnet werden können, das gilt vor allem für Großveranstaltungen wie Demonstrationen (vgl. z.B. Malthaner et al. 2018; Nassauer 2019) und Fußballspiele (z.B. Feltes 2013). Personen aus diesen Bereichen sind häufig gut vernetzt, so dass das Schneeballverfahren hier sehr gut funktionierte. Dies spiegelt sich auch in der Stichprobe wieder: 55 % der Befragten kamen bei einer Demonstration oder politischen Aktion mit der Polizei in Kontakt, 25 % bei einem Fußballspiel oder einer anderen Großveranstaltung, 20 % bei anderen Einsätzen außerhalb von Großveranstaltungen (z.B. wenn die Polizei wegen eines Konflikts gerufen wurde, bei Personen- oder Verkehrskontrollen, Fest- oder Ingewahrsamnahmen usw.). Da der bestehende Forschungsstand zeigt, dass in diesen Bereichen sehr unterschiedliche Interaktionsdynamiken vorherrschen, und sich die jeweilige Befragtenstruktur ebenfalls maßgeblich unterschied (z.B. bzgl. Geschlecht und Migrationshintergrund), wurden diese drei Settings jeweils als eigene Teilstichproben analysiert und miteinander verglichen. Die Bildung der Stichproben erfolgte demnach sowohl deduktiv (theoriegeleitet) als auch induktiv (von den Daten ausgehend).

86 % der von den Befragten geschilderten Fälle ereigneten sich in den Jahren 2009 bis 2018, 10 % in den Jahren 1999 bis 2008, 3 % waren länger her, 1 % der Befragten machten keine Angabe zum Jahr. Auf eine zeitliche Einschränkung – zum Beispiel nur Vorfälle der letzten zehn Jahre – wurde in der Online-Befragung bewusst verzichtet. Eine solche Einschränkung hätte dem explorativen Charakter der Studie widersprochen. Da der Anteil von älteren Fällen als gering einzustufen ist, wurden diese in die Gesamtauswertung einbezogen, da auch diese Erkenntnisse über relevante situative Aspekte liefern können. Die 63 Interviews, die mit Polizei, Justiz und zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt wurden, bilden die aktuelle Situation ab.
 
 

 

Literatur

BERG B. L., LUNE H., 2014, Qualitative Research Methods for the Social Sciences, Hallbergmoos, Pearson.

DIEKMANN, A., 2020, Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. 13. Auflage. Hamburg, Rowohlt.

ELLRICH K., BAIER D., 2015, Gewaltausübung durch Polizeibeamte – Ausmaß und Einflussfaktoren, Rechtspsychologie 1, 1, 22-45.

ELLRICH, K., BAIER, D. & PFEIFFER, C., 2012. Polizeibeamte als Opfer von Gewalt:
Ergebnisse einer Befragung von Polizeibeamten in zehn Bundesländern, Baden-Baden, Nomos.

FELTES, T. (2013). Polizei und Fußball. Analysen zum rituellen Charakter von Bundesligaspielen, Frankfurt a.M.

MALTHANER, S., TEUNE, S. & ULLRICH, P. (2018). Eskalation. Dynamiken der Gewalt im Kontext der G20-Proteste in Hamburg 2017, Berlin/Hamburg, Institut für Protest und Bewegungsforschung, Zentrum Technik und Gesellschaft, Hamburger Institut für Sozialforschung.

NASSAUER, A., 2019. Situational Breakdowns: Understanding Protest Violence and Other Surprising Outcomes, New York.

PENROD J., PRESTON D. B., CAIN R. E., STARK M. T., 2003, A discussion of chain referral as a method of sampling hard-to-reach populations, Journal of Transcultural Nursing, 14, 2, 100– 107.

TRÜBNER M., SCHMIES T., 2019, Befragung von speziellen Populationen, in BAUR, N., BLASIUS J.(Hrsg.), Handbuch Methoden der empirischen Sozialforschung, 2. Auflage, Wiesbaden, Springer VS, 957-970.